Stefan Grass über autofreie Sonntage

Zeit für eine neue Initiative?

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Nach der Ölkrise von 1973 lancierten Burgdorfer Technikstudenten eine nationale Volksinitiative für zwölf autofreie Sonntage pro Jahr. Das Volk lehnte sie zwar ab, aber heute mutet sie angesichts der Klimakrise visionär an. Es war im Jahr 1973, und der gesamte Autoverkehr in der Schweiz stand an drei Sonntagen still. Man sah in der Schweiz Leute, die mitten auf der Autobahn ihr Familienzelt aufstellten und picknickten. Kinder, die mit Rollschuhen und Velos auf der Hauptstrasse rumkurvten. Die Bilder in den Zeitungen: leere Autobahnen mit Spazierenden darauf.

Der Grund für die ausserordentliche Massnahme lag in einer internationalen Krise, ausgelöst durch einen Konflikt zwischen Israel und den arabischen Staaten. Wegen des Jom-Kippur-Kriegs drosselten die erdölexportierenden Staaten ihre Liefermengen, der Ölpreis stieg markant. Um Benzin zu sparen, verordnete der Bundesrat drei autofreie Sonntage in Folge. Viele sahen, dass es kein Drama war, mal aufs Auto zu verzichten. Studenten vom Technikum Burgdorf lancierten kurz darauf eine nationale Volksinitiative für zwölf autofreie Sonntage pro Jahr («Burgdorfer Initiative»). Einmal pro Monat wäre jeglicher privater Motorfahrzeugverkehr «zu Land, zu Wasser und in der Luft» untersagt worden. Im Jahr zuvor hatte der Club of Rome den Bericht «Die Grenzen des Wachstums» veröffentlicht. Der Treibhauseffekt war damals laut Initianten kein Grund für die Lancierung der Initiative, wohl aber die durch Autos verursachte Luftverschmutzung. Zudem waren die damals weit über 1000 Strassentoten pro Jahr und die Verdrängung der Fussgängerinnen und Fussgänger weitere Argumente.

Die nötigen Unterschriften hatten die Initianten (acht Männer und eine Frau) schnell beisammen. Für den Abstimmungskampf bildeten sie ein breit abgestütztes Patronatskomitee. Ich selber absolvierte damals ein Elektroingenieur-Studium am Technikum Burgdorf und verfolgte die Abstimmungskampagne über die Medien. Ich erinnere mich noch gut an diese bewegten Tage: Seit ich erlebte, wie neun Personen eine Volksabstimmung in der ganzen Schweiz initialisierten, wurde ich «politisiert». In den Diskussionen mit den «autophilen» Mitstudenten verteidigte ich die «Burgdorfer Initiative». Die Abstimmung im Mai 1978 ging aber krachend verloren. Bloss 36 Prozent stimmten der Initiative zu, über 40 Prozent Ja erreichte die Initiative nur in den Kantonen Bern, Zürich und in Appenzell-Ausserrhoden(!).

Seither sind über 40 Jahre vergangen. Nach der Ablehnung der Initiative wurde 1979 der Verkehrs-Club der Schweiz (VCS) gegründet. Heute sind mehr als doppelt so viele Personenwagen unterwegs wie damals. Flächendeckende autofreie Tage gibt es in der Schweiz noch immer nicht. 2003 scheiterte eine Volksinitiative für vier autofreie Sonntage fast ebenso deutlich wie damals die «Burgdorfer Initiative». Für mich mit dem Unterschied: Diesmal gehörte ich aktiv zum innersten Kern der Initiantinnen und Initianten.

Wäre es angesichts der weltweiten Ölverknappung respektive steigenden Benzinpreise an der Zeit, über die Lancierung einer neuen Volksinitiative nachzudenken? Die in den 1970er-Jahren vorgebrachte Idee zwölf autofreie Sonntage einzuführen, erscheint in Anbetracht der bedrohlichen Klimaerhitzung als Inspiration. In Anbetracht der Abhängigkeit von russischem Öl und von Diktator Wladimir Putin wird wieder laut über zumindest vier autofreie Sonntage nachgedacht. Ein paar autofreie Sonntage führen zwar nur zu einer geringen Reduktion des Ölkonsums. Es wäre jedoch ein starkes Zeichen der Solidarität mit der kriegsgeplagten ukrainischen Bevölkerung.


Stefan Grass ist Präsident des VCS Graubünden und Sekretär der Vereinigung Bündner Umweltorganisationen VBU. Sein Gastkommentar erschien am 07.06.2022 im Bündner Tagblatt.

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